von Bettina Baltschev, MDR KULTUR
Als bekannt wurde, dass Chemnitz 2025 Kulturhauptstadt werden soll, wunderten sich manche Leute, dass die Jury sich nicht für eine glänzendere Stadt entschieden hatte, die mehr zu bieten hätte. Doch das waren vermutlich vor allem die Leute, die Chemnitz und seine Geschichte nicht kannten. Wie wechselvoll und durchaus auch glänzend diese Geschichte ist, das lässt sich nun in einem Roman nachlesen, dessen Titel nicht ohne Grund an den Namen eines Stadtteils von Chemnitz erinnert. „Kaßbergen“ heißt der Roman, geschrieben von Patricia Holland Moritz.
Bettina Baltschev über „Kaßbergen“ von Patricia Holland Moritz
In jeder größeren ostdeutschen Stadt gibt es heute diese Quartiere, die einen mit ihren Jugendstilhäusern und Fabrikantenvillen in das frühe 20. Jahrhundert versetzen. Erst hatten diese Viertel das Glück, vom Bombenhagel des Zweiten Weltkrieges halbwegs verschont zu bleiben, dann hatte die DDR kein Geld, die Zeugnisse des Manchesterkapitalismus abzureißen und schließlich fanden sich zugereiste Investoren, um sie originalgetreu zu sanieren und meistbietend zu verkaufen. In Chemnitz heißt dieses Viertel Kaßberg, das über dem Rest der Stadt auf einem Hügel thront. Hier wurde 1967 Patricia Holland Moritz geboren und hier spielt auch ihr Roman, den sie „Kaßbergen“ genannt, aber doch recht nahe an der Wirklichkeit entlang geschrieben hat. Etwa, wenn sie die Phase der Industrialisierung in einigen prägnanten Zeilen zusammenfasst.
Zitat aus „Kaßbergen“: „Unten in der Stadt wuchsen die Schornsteine. Während sich die eng gewundene Auffahrt nach Kaßbergen hinauf Fuhren mit stämmigen Pferden und schwer beladen Hängern mühten, blühten in den beiden großen Nachbarstädten ein Königssitz und ein Handelszentrum. Auf die Stadt um Kaßbergen herum fiel das Los der Arbeit, die nur mit körperlicher Kraft zu verrichten war. Und man munkelte schon, hier würde das Geld verdient, mit dem in der Messestadt gehandelt und das dann in der Königsstadt verprasst wurde.“
Wo das „Leben schimpft, liebt, rülpst und furzt“
In vielen kurzen Kapiteln entwirft Patricia Holland Moritz ein historisches Panorama, durch das sich als roter Faden die Geschichte des Mädchens Ulrike zieht, die hier in den 1970er- und 80er-Jahren aufwächst. Weil die Eltern sich früh trennen, verbringt sie viel Zeit beim Häuptling und dem Minister, wie ihre Großeltern genannt werden. Kaßbergen ist ihre vertraute Welt, aus der sie selten herauskommt.
Zitat aus „Kaßbergen“: „In dem Mikrokosmos unseres Hinterhofs gab es keine Schilder, die einem jeden Tag mit ihren Aufforderungen ‚Auf zum…‘ oder ‚Vorwärts zum …‘ vor sich her trieben. Hier herrschte eine andere Betriebsamkeit. Hier schienen völlig andere Menschen zu leben als jene, welche die Banner aufhängen und darunter strammstanden. Hier duftete und roch es, schimpfte, liebte, furzte und rülpste es, das Leben. Und auf einem Balkon gegenüber säte es und topfte es um, raus aus der Keramik, rein in den Blumenkasten mit den Pelargonien.“
Stefan Heym und Stephan Hermlin vom Kaßberg
Doch während das Mädchen Ulrike eine vergleichsweise typische DDR-Jugend in Kaßbergen verbringt, handeln die dazwischen geschalteten Kapitel von Glanz und Elend des Viertels, von den Kunstwerken, die einst in den Villen der Fabrikbesitzer hingen, von den beiden Stefans, die einmal große Schriftsteller werden sollten. Als Rudolf Leder kommt der eine hier zur Welt, als Helmut Flieg der andere, Stephan Hermlin und Stefan Heym.
Zitat aus „Kaßbergen“: „Was würde in 100 Jahren sein, fragte sich Helmut Flieg, während er, wie schon als Junge, die Schrittlänge den Gehwegplatten anpasst. Von weitem sah er aus wie ein verlorenes Kind. Von nahem erst sah man die strenge Falte auf seiner Stirn und auch, dass er längst kein Kind mehr war. Der Junge vom Kaiserplatz schrieb Gedichte, wie andere Kreuzworträtsel lösten. Und für eines davon war er ja heute von der Schule geflogen.“
Die Zeit, als Chemnitz nicht mehr Chemnitz hieß
Auch vom Brand der Synagoge und von den jüdischen Kaufhäusern Tietz und Schocken erzählt Patricia Holland Moritz, und davon, dass das Mädchen Ulrike in der Schule nichts von der jüdischen Geschichte ihrer Stadt erfährt, die zwischenzeitlich nicht einmal mehr Chemnitz heißt. Stattdessen freundet die sich eines Tages mit Gonzo an. Der Punk mit literarischen Ambitionen nimmt sie mit zu einem Schreibzirkel, wo sie auf einen Lektor trifft.
Zitat aus „Kaßbergen“: „‚Und du schreibst auch?‘, fragte er wieder sehr freundlich und meinte immer noch mich. ‚Sie versucht’s zumindest‘, mischte sich Gonzo ein und erhielt unter dem Tisch einen Tritt von mir. ‚Machtse aber gut‘, sagte der Schriftsteller und prostete mir zu. ‚Auf die schreibenden Arbeiter!‘, sagte Jochen Mehnert und stieß mit mir und dem Schriftsteller an, während Gonzo mit verschränkten Armen zuschaute. ‚Bitterfelder Weg. Was für’ne Einöde‘, sagte Ronald Schaarschmidt und Jochen Mehnert zündete sich unter krachendem Gelächter eine Zigarette an. ‚Damit weeß die Kleene aber gar nischt anzufangen.'“
Es sind viele Themen, die Patricia Holland Moritz in ihrem historischen Panorama unterbringt, unterbringen muss, weil in die letzten einhundert Jahre so viel passiert ist. Manches wird nur angedeutet, die Geschichte Ulrikes dafür umso ausführlicher erzählt. Wer wie sie im Osten der Republik aufgewachsen ist, wird manches wiedererkennen, wer dazu noch aus Chemnitz kommt, vermutlich noch viel mehr. „Kaßbergen“ ist eine schöne Hommage an diese so oft unterschätzte Stadt, die weit mehr zu bieten hat als den Nischl von Karl Marx.